2. Vorlesung
Heraklit und Parmenides
Anfang des eigentlichen Philosophierens.
Oberflächlichkeit der Entgegensetzung beider.
I. Heraklit
Biografische Notiz
Heraklit, um die 70. Olympiade (500 v. Chr.)
berühmt, war ein Epheser, zum Teil noch gleichzeitig mit Parmenides. Er ist als
einsamer und seltsamer Misanthrop mit aristokratischem Selbstbewusstsein
bekannt, der sich von den öffentlichen Angelegenheiten trotz den an ihn
gerichteten Erwartungen zurückgezogen hat.
1. Sein und Werden
„Das
Sein ist sowenig als das Nichtsein; das Werden ist und ist auch nicht“, „Alles
fließt (panta rhei), nichts besteht, noch bleibt es je dasselbe.“ Indem Heraklit verkündet, alles sei ein Werden,
meint er keinen fortlaufenden Wechsel in der sonst vorhandenen Gesamtheit des Seienden,
sondern dass nichts bloß vorhanden ist. Jedes Seiende hat an sich seine Negation,
sein Anderes, d.h. es ist nur in der Differenz zu, Auseinandersetzung mit, Verweisung
auf etwas gegeben, das es nicht ist. Das Andere, im Unterschied zu dem ein Seiendes
seine Bestimmung erhält, ist kein abstraktes, beliebiges, vielmehr sein eigenes
Anderes. So ist jedes das Andere des Anderen als seines Anderen. Darum ist für
jedes Seiende sein Ende, seine Grenze im Entgegengesetzten sein eigener Anfang,
seine Wesensbestimmung. Es entsteht erst als im Anderen zu sich selbst
wiederkehrend. Platon veranschaulicht in seinem Symposion (187) die Dialektik
von Heraklit folgendermaßen: „Das Eine,
von sich selbst unterschieden, eint sich mit sich selbst wie die Harmonie des Bogens
und der Leier“.
Exkurs über Heidegger
Die Griechen hatten ein geeignetes Wort dafür, das
wir „Dinge“ nennen: pragmata. Für sie waren die Dinge keine abgesonderten
Vorhandenheiten, sondern das, womit wir umgehen, indem wir immer in einer
„praktischen“ Situation eingeschrieben sind. Nach Heidegger begegnen uns die
Seienden ursprünglich auf diese Weise, als Zeuge. Das Zeug, z. B. ein Hammer,
ist etwas Zuhandenes – der Umgang erfaßt weder dieses Seinde thematisch als
vorkommendes Ding, noch weiss er um die Zeugstruktur als solche. Erst wenn der
Hammer zerbricht oder sich als ungeeignet erweist, kommt er in den Blick, wird
er aus etwas Zuhandenem zu etwas Vorhandenem. Sein „Begaffen“ kann ihn in
irgendwelchen Kategorien erfassen, doch wird er ursprünglich in seinem
„praktischen“ Gebrauch erkannt (d.h., dass Theorie und Praxis dasselbe sind),
weil er sich darin von sich selbst her zeigt, d.h. vom situativen Zusammenhang
her, der ihn konstituiert hat. Dieser Zusammenhang ist kein Projekt und Besitz
des das Zeug Gebrauchenden, da der Letzte selbst in ihm eingewoben und
befindlich, und deswegen ihm unterworfen ist.
Ein Zeug „ist“ strenggenommen nie. Es ist das, was
es ist, immer von einem Zeugganzen aus. Das Zeug ist wesenhaft „etwas, um
zu...“, d.h. es ist nicht an sich selbst gegeben, sondern nur in Verweisung auf
etwas Anderes, als mit etwas Anderem zueinander gehörig. Hammer, Zange, Nadel,
Nagel usw. zeigen sich zunächst nicht an sich selbst, um nachträglich
zusammengetragen zu werden, vielmehr vom Zusammenhang des Werkes her, dessen
Herstellung sie dienen. Das Herzustellende ist das, was das sie konstituierende
Ganze ihrer Verweisungen aufeinander trägt. Es ist seinerseits kein Projekt des
Handwerkers, sondern von der situativen Befindlichkeit des Letzten aus
bestimmt, d.h. es ist ein Projekt der Situation selbst. Deshalb ist das Werk
kein Vorhandenes, vielmehr wiederum zeughaft, d.h. „praktischer“ Natur. In ihm
liegt zugleich die Verweisung auf „Materialien“ – Stahl, Holz, Leder u. dgl. So
wird im „praktischen“ Umgang die Materie mitentdeckt, aber nicht als etwas
Vorhandenes, sondern als Potenz, Geeignetheit zu..., d.h. als vom rein formalen
Zusammenhang der Situation her bestimmte: der Wald ist Frost, der Berg
Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind Wind „in den Segeln“.
Nach dem bis hierher dargelegten Verständnis sind
die Seienden nicht an sich selbst gegeben, die „ausgefüllten“ Stellen, die sich
äußerlich und indiferrent gegeneinander befinden, sondern gerade durch die
„leeren“ Felder zwischen ihnen bestimmt und hervorgehoben, was heißt, dass die
Aspekte ihrer Stellung zueinander innerlich und wesenhaft für sie sind. Das
Sein ist dieses „Zwischen“, ein Medium. Medium, ein Begriff, den wir der
deutschen Romantik entleihen, bedeutet ein Vermittelndes, das die von ihm
vermittelnden Seiten erst konstituiert. Als etwas die Seienden total
vermittelndes, äußerlich von ihnen nicht begrenztes ist das Sein ein Ganzes,
das sich von sich selbst unterscheidet, sich gliedert, um sich als die Einheit
des Auseinandergesetzten, als den Zusammenhang seiner Teile zu ereignen. Dieses
Ganze ist nicht etwas im Voraus vorhandenes, sondern ereignet sich gleichzeitig
mit ihnen als den Kontext der jeweiligen Situation, in der sie uns begegnen. Sein
Auseinandersetzen, Aufteilen ist nicht nur ein Betsimmen der in der
ereignishaften Konfuguration teilnehmenden Dingen, sondern auch deren
Hervorkommen, Erscheinen. Heidegger betont, dass das Sein sich den Griechen zuerst
als Physis geoffenbart hat und dass dieses Wort für sie kein Vorhandenes oder
Zusammen von Vorhandenen bedeutete, vielmehr Aufgehen, zum-Vorschein-kommen,
das darin bleibt, wovon es ausgeht, d.h. die beschriebene Selbstunterscheidung
darstellt. Z.B. ist die Blüte eine Negation des Baumes, die Frucht - der Blüte, der Samen – der Frucht,
letztendlich – des Baumes. Doch ist der Samen kein Äußerliches, Indiferrentes
gegenüber des Baumes, da in ihm der Baum zu sich selbst wiederkehrt. D.h., dass
Blüte, Frucht, Samen einer innerlichen Gliederung des Ganzen, das der Baum ist,
entspringen, also sich als Elemente zeigen, die durch ihre Stellen in seiner
Konfiguration bestimmt sind.
2. Das Sein als Logos
Logos heißt ursprünglich nicht Rede, Sagen, um so
weniger – Vernunft. Das Zeitwort „legein“ bedeutet „lesen“, z.B. Ähren lesen,
Holz lesen, Weinlese. Dies besagt: das eine zum anderen legen, in eines
zusammenbringen, kurz – sammeln. Das ist kein Anhäufen, Durcheinanderbringen,
sondern das eine wird zugleich gegen das andere abgehoben und nimmt seine wahre
Stelle ein. Frg. 2 spricht den Logos als das Zusammen im Seienden, als das
ursprünglich Sammelnde aus. Somit ist der Logos mit dem Sein, d.h. mit der
Physis identisch – der Zusammenhang der von ihrer Stelle in ihm aus bestimmten
Elemente, das Medium, in dessen immanenten Grenzen sich jede Unterscheidung und
Bestimmung vollzieht. Da dieser Zusammenhang seinen Elementen nicht vorausgeht
als etwas ideel Vorhandenes, vielmehr ereignishaft ist, braucht er, um sich zu
ereignen, den Menschen im doppelten Sinne von jemandem, den er braucht und gebraucht.
Wie alles Seiende, ist auch der Mensch ursprünglich nicht vorhanden, sondern
von seiner Teilnahme am Logos her bestimmt. Er ist aber zudem das einzige
Seiende, welches nicht von seinen Beziehungen hingenommen wird, sondern
zwischen sich selbst und dem Anderen unterscheiden kann. Das bedeutet erstens,
dass der Mensch das Andere gerade als Anderes erscheinen lässt, und zweitens,
dass er zum Anderen in einer freien Beziehung steht, d.h. sich ihm gegenüber
nicht benimmt, vielmehr verhält. Der Mensch kann somit die Dinge in einem
Zusammenhang sammeln, der sie erst bestimmt und zum Vorschein bringt. Andererseits
aber eignet ihm diese „göttliche“, schöpferische Spontaneität nur insofern, als
er nicht vorhanden ist, sondern sich schon immer in einer Situation befindet,
d.h. als er am Logos teilnimmt. Die Sprache, darin der Mensch sich seine
situative Befindlichkeit aneignet und so die Dinge um sich selbst herum
sammelt, ist in ihrem Wesen kein vorhandenes Mittel der Bezeichnung oder des
Ausdrucks schon vorhandener Inhalte, vielmehr Artikulietung der jeweiligen
Situation, Fixierung der Gliederung ihres Zusammenhangs. Bevor also der
menschliche Logos Wort und Laut werde, ist er die äußere Seite davon, dass das
Sein als Logos sich in sich selbst unterscheidet und diese Unterscheidung eine
Gliederung, „Rede“ ist. Selbst wenn man im Kontext der jeweiligen Situation
etwas als das nimmt, was auf ein Anderes verweist, artikuliert er es in seiner
Bedeutung. Mithin ereignet sich das Sein als Logos, indem er sich als
Verhältnis des Menschen zum Seiendem abspielt.
Frg. 34 sagt: „
die, die das ständige Zusammen nicht zusammenbringen, sind Hörende, die den
Tauben gleichen“. Die Menschen können Worte hören, insoweit sie zum Logos
gehören, ihm „hörig“ sind, d.h. am Zusammenhang der jeweiligen Situation
teilnehmen, sich in ihrer Befindlichkeit darin aufnehmen. Sie sind aber taub,
wenn sie nur Worte hören, d.h. wenn die Sprache verselbständigt, von der Artikulierung
der Situation abgesondert wird. Oder, was dasselbe heißt, wenn sie das Sein als
Logos vergessen: „womit sie am meisten verkehren,
dem Logos, dem kehren sie Rücken, und worauf sie täglich stoßen, das erscheint
ihnen fremd“ (Frg. 72). Mit dem Sein als Logos haben sie zu tun, indem sie
sich ständig zu Seiendem verhalten, fremd ist es ihnen, weil sie meinen,
Seiendes sei nur Seiendes und nichts weiter, d.h. kein ereignishaftes, nur in
einem situativen Zusammenhang treffbares, sondern etwas bloß vorhandenes und
für sich dastehendes. Sie sind zwar wach, insofern sie sich auf Seiendes
beziehen, und doch schlafen sie, da sie sich in der Situation nicht eigentlich
befinden und deren Faktizität ihnen äußerlich, nicht angeiegnet bleibt.
Heraklit sagt: „Wir tun und denken alles
nach der Teilnahme am göttlichen Verstande (logos). Deswegen müssen wir nur
diesem allgemeinen Verstande folgen. Viele aber leben, als ob sie einen eigenen
Verstand hätten; der Verstand aber ist nichts anderes als die Auslegung der
Weise der Anordnung (Einrichtung) des Alls. Deswegen, soweit wir teilnehmen am
Wissen von ihm, sind wir in der Wahrheit; soviel wir aber Besonderes
(Eigentümliches) haben, sind wir in der Täuschung.“ Der Sinn desjenigen,
der sich vom Sein als Logos abkehrt, d.h. sich vom Zusammenhang der Situation
ausschließt, ist Eigen-sinn. Das Träumen ist ein Wissen von etwas, wovon nur
ich weiß. Hier fungiert die Sprache nicht als Aneignung der Beziehungen, in
denen sich der Mensch befindet, sondern als entzweiender und verstellender
Schein. Hinter seiner scheinbaren Einheit zerstreut sich der Mensch in seine
nicht übernommenen, nicht artikulierten Weltbeziehungen.
3. Die Wahrheit als Unverborgenheit (Frg. 16)
Die Wahrheit ist noch keine Richtigkeit des
Vorstellens und Aussagens, keine Entsprechung zwischen ihnen und einem
faktischen Bestand. Sie gehört zum Wesen des Seins selbst. Das Sein ist das,
was erscheinen, aus der Verborgenheit heraustreten lässt. Die Wahrheit ist
diese sich ereignende Unverborgenheit (aletheia), in der ein Seiendes als
Seiendes überhaupt sein kann.
II. Parmenides
Biografische Notiz
Parmenides ist eine ausgezeichnete Figur in der
eleatischen Schule. Er war aus einem angesehenen und reichen Geschlecht geboren
und blühte um die 69. Olympiade (504-501 v. Chr.). Am wichtigsten ist seine
Reise nach Athen mit Zenon, wo Platon sie mit Sokrates sich unterreden läßt. Er
stand auch bei seinen Mitbürgern in Elea in sehr hohem Ansehen, deren Wohlstand
vorzüglich den Gesetzen, die Parmenides ihnen gab, zugeschrieben werden muß.
1. Die drei Wege oder Sein und Schein
a) der Weg zum Sein, der zugleich in die
Unverborgenheit führt; er ist unumgänglich;
b) der Weg zum Nichtsein, der zwar nicht begangen
werden kann (insoweit es unmöglich ist, ein Seiendes im Nichtsein zu sein) und
doch bedacht werden muss, weil dies, dass das Nichts nicht etwas Seiendes ist,
keineswegs ausschließt, dass es zum Sein gehört; d.h., wie bei Heraklit, das
Sein des Seienden ist keine Vorhandenheit, positive Gegebenheit, sondern der
sich ereignende und jede positive Gegebenheit negierende Zusammenhang der jeweiligen
Situation; oder: das Nichts soll nicht von der Vorhandenheit her gedacht
werden, als Fehlen von Seiendem, was paradoxerweise hieße – als Vorhandenheit
der Abwesenheit, vielmehr als die zum Sein des Seienden selbst gehörende
Negation;
c) der Weg zum Schein, der stets zugänglich und
begangen, aber umgehbar ist; auf diesem Weg des Irrtums sieht das Seiende bald
so, bald anders aus, hier herrschen also nur Ansichte; der Mensch geht ihn, indem er sich von seiner Zugehörigkeit zu einer
ereignishaften Konfiguration ablöst und sich derart als vorhanden versteht.
Im Gegensatz zur Unständigkeit und Fragmentarität
des Scheins ist das Sein „unerzeugt und
unvergänglich, ganz, eines Geschlechts (mounogenes), unbewegt und ohne Ende. Es
war nicht, noch wird es sein, sondern jetzt ist alles zugleich – ein
Zusammenhang“. Das bedeutet aber nicht, das Sein sei etwas übersinnliches,
ewig und unveränderlich Vorhandenes, sowie unendlich im Sinne von „unbegrenzt“,
sondern dass es ein sich außerhalb der sukzessiven Zeit, augenblicklich
ereignender, unwiederholbarer, sich selbst begrenzender und bestimmender
Zusammenhang ist, d.h. ein Medium. Andererseits ist das Schein nicht nur die
Betrachtungsweise jener, die sich von diesem ereignishaften Zusammenhang
absondern, das Seiende als vorhanden verstehen und es nach verschiedenen
Hinsichten, oberflächlich ansehen. In seinem ursprünglichen Modus gehört er zum
Wesen des Seins selbst, insoweit es dasjenige ist, was etwas überhaupt
erscheinen lässt.
2. Sein und Vernehmen
Die geläufige Übersetzung von Frg. 5 lautet: „Dasselbe aber ist das Denken und das Sein“.
Heidegger: „Zusammengehörig sind
Vernehmung und Sein“, auch Frg. 8: „Dasselbe
ist Vernehmung und das, worumwillen Vernehmung geschieht.“ Die Selbigkeit
ist keine bloße Gleichgültigkeit, leere Einerleiheit, vielmehr die
Zusammengehörigkeit des Auseinandergesetzten. „Noein“ heißt ursprünglich nicht
„Denken“, sondern „Vernehmen“, „nus“ – nicht „Verstand“, sondern etwa Vernehmenkönnen.
Vernehmung besagt: das Erscheinende, Sichzeigende zukommen lassen, wobei es
nicht einfach hingenommen, sondern aufgenommen wird. Sie ist keine passive
Wahrnehmung, bloße Rezeptivität, weil sie eine entschiedene, „aktive“ Übernahme
der eigenen Situiertheit, einen Widerstand gegen die Trägheit der überkommenen,
durchschnittlichen und verfügbaren Bedeutungen enthält. Seinerseits meint Sein:
erscheinen, in die Unverborgenheit treten. Somit gehört die Vernehmung zum Sein
und geschieht um dessentwillen (wie bei Heraklit sich das menschliche Logos –
die Sprache – und das göttliche Logos – das Sein – zueinander verhalten). Sie
ist kein Vermögen des sonst bereits vorhandenen und irgendwie bestimmten
Menschen, vielmehr ein Geschehen, worin der Mensch erst zum Sein kommt. Das
Sein des Menschen besteht darin, das Offene des Seins zu verwahren, die Stätte
für die Eröffnung des Seienden zu sein.
3. Zwei Modi der Sprache
Wie „legein“ bei Heraklit, bedeutet „noein“ die
Teilnahme am Sein als dem Zusammenhang des Seienden, welche vom Sein selbst
ernötigt wird. Selbst wenn Parmenides das Wort „Logos“ nicht ausdrücklich
verwendet, findet sich bei ihm die scharfe Entgegensetzung von Logos als
„legein“ und „glossa“ im Sinne von bloßem Hersagen, Mundwerk oder
Zungenfertigkeit. Das Wort, das Nennen versieht nicht nachträglich ein sonst
schon offenbares Seiendes mit einem Merkzeichen, sondern stellt und bewahrt allererst
dieses in die Offenheit, indem es einer im Zusammenhang der jeweiligen
Situation bereits vorgezeichneten Artikulation entwächst. Das Wort, welches zum
bloßen Zeichen herabsinkt, schiebt sich vor das von ihm ersetzte Seiende und
wird derart zum Ursprung des Scheins, da das Seiende so mit abstrakten,
transsituativen Bedeutungen beladen wird.
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