Einleitung
I. Die „doppelte Buchführung“ des gegenwärtigen Menschen. Vorstellung und
Ereignis. Das Leitmotiv der Vorlesungen
Es ist für jene gegenwärtige Mehrheit, welche die
wissenschaftliche Auslegung des Seienden als Fundament des „gesunden Menschenverstands“
hat, eine merkwürdige „doppelte Buchführung“ typisch. Sie versteht das Seiende,
das nicht in der Weise des Menschen ist, d.h. das Natürliche und das
Hergestellte, als vorstellbar seitens des Menschen als ein Subjekt. Das besagt:
als etwas außer ihm stehendes und doch in ihm (re)konstruierbares. Subjekt
heißt ursprünglich: die ständig anwesende Grundlage der Dinge. Der Mensch ist
dies, indem er eine in einem Körper vorhandene Innerlichkeit ist, für welche
die Dinge nur insofern und so da sind, als und wie sie vor ihr erscheinen. Indem
er sie vor sich stellt, unterstellt, unterschiebt er ihnen sich selbst.
Zugleich meint man, diese vorstellende Innerlichkeit geriete nicht in
Gefangenschaft der Einbildung, indem sie jedwede Beziehung zum „Äußeren“
verliert, und zwar gerade dadurch, dass sie abstrakt-allgemein, transsituativ
ist. Als eine solche steht sie in Korrelation mit einem Seienden, das ihr
Gegenstand heißt und „objektiv“, an sich, über die individuelle und konkrete
Perspektive hinaus vorhanden ist. Das bedeutet aber nur, dass, wie gesagt, sie
dem Seienden sich selbst unterschiebt, indem sie sich zu vergewissern sucht,
dass es ihren Vorstellungen entspricht. „Wahrheit“ besagt hier Entsprechung
zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstand, Richigkeit in dem Sinn, dass der
Gegenstand sich nach der vorgestellten Weise „verhält“. Das heißt aber, dass
der Mensch darauf ist, das Seiende als etwas berechenbares, d.h. etwas, womit
er rechnen kann, was ihm zur Verfügung steht, sicherzustellen – Gegenstand
bedeutet ja genau das, was in einem gesicherten Zustand entgegensteht. Anders
gesagt: dass er es zur bloßen Materialisierung einer von ihm gesetzten Form
herabsetzt.
Andererseits wird in den zwischenmenschlichen
Beziehungen ein wesentlich anderer Standpunkt vertreten, der allerdings am
meisten von der Sprache verstellt wird, die ihn vermeintlich aussagt. Die
Sprache ist keine reine, unschuldige Bezeichnung eines an sich seienden
Inhalts, sondern bestimmt schon immer die Perspektive, darin das Gesagte
erscheint, mithin – dieses selbst. Die heute geläufige und selbstverständliche
Sprache, darin die Begriffe des gesunden Menschenverstands wurzeln und davon
auch die Wissenschaft Gebrauch nimmt, ist eine Überlieferung der abendländischen
Metaphysik, der gerade das oben besprochene vorstellende Denken entspringt. In
diesem Bereich also ist eben die vorstellende Innerlichkeit in Gefangenschaft
der Einbildung, in sich selbst verkapselt. Sie wendet sich von der konkreten
Situation ab, gleichviel ob sie sich auf irgendwelche universellen Vorbilder
oder auf ihre individuelle Eigentümlichkeit zuwendet. Der Andere steht
„optisch“, oberflächlich, nur in den ihm von ihr vorherbestimmten Hinsichten
da. Die andere Seite seiner „narzisstischen“ Vergegenständlichung, davon, dass
die vorstellende Innerlichkeit in ihm keine Grenze erfährt, ist aber die
Ausweglosigkeit dieser, das, dass sie dazu verurteilt wird, sich mit ihm
gegenseitig auszuschließen. Indem sie unbegrenzt für sich selbst ist, d.h. die Bestimmungen,
welche sie im fremden Blick haben könnte, nicht auf sich nimmt, erscheint sie
für ihn gar nicht, d.h. ist sie für ihn nicht da. Während sie sich mit ihrer
situativen Faktizität nicht identifiziert, werden ihr von außen her keine
situativ nicht gezeigten Eigenschaften anerkannt. Somit ist hier der Mensch
darauf hingewiesen, aus sich selbst als einer vor sich stellenden Innerlichkeit
herauszugehen und derart sowohl den Anderen als auch sich selbst vom
ereignishaften Charakter, d.h. von dem von ihnen geteilten situativen
Zusammenhang her sein zu lassen. In diesem Fall sind die beiden Seiten nicht
vorhanden und, was dasselbe heißt, auseinander stehend, vielmehr werden sie von
ihrer Teilnahme an der Situation aus bestimmt und stehen einander gegenüber aufgrund
dieser ihrer Zusammengehörigkeit.
Diese Vorlesungen gehen dem Verständnis nach, dass
nicht nur das Seiende, das in der Weise des Menschen ist, sondern auch ein
jedes Seiende für den Menschen ursprünglich als Ereignis gegeben ist, weil er
keine vorhandene und in einem Körperding eingesperrte Innerlichkeit, sondern
durch seinen Leib schon immer in der jeweiligen Situation „eingeschrieben“ ist,
d.h. bevor er diese oder jene Bestimmtheit hat, nimmt er je an einer Situation
teil. Gerade diese Hinausgetragenheit in der Situation ist die Offenheit,
welche möglich macht, einem Seienden überhaupt zu begegnen. Das Verhältnis zum
Anderen ist zugleich Selbstverhältnis – das Andere ist ein Anderes immer mir
gegenüber, insoweit ich in ihm auf mich selbst beziehe. Das gilt ja durchaus
für die vorstellende Innerlichkeit, für welche die Dinge insofern da sind, als
in ihnen ihre fortwährende Vorhandenheit auf sich selbst verweist. Allein ist
das Selbstverhältnis nur als Verhältnis zu etwas Anderem möglich – die von
jeder Situation abgesonderte, an sich selbst gegebene Innerlichkeit, die mit
dem Anderen in einer gegenseitigen Ausgeschlossenheit und einer indifferenten
Verschiedenheit liegt, kann sich keineswegs als etwas Unterschiedliches wissen,
d.h. auf sich selbst beziehen. Das sich zu sich selbst Verhaltende ist dies
erst als das Andere des Anderen als sein eigenes Anderes. Somit sind das
Selbstverhältnis des Menschen und das Verhältnis zum Seienden in ihrer
Zusammengehörigkeit im Grunde ereignishaft, vollziehen sich jedesmal von einem
situativen Zusammenhang her, den der Mensch und das Seiende miteinander teilen.
Sind aber nicht z. B. die Tiere in ihrem Umring ganz „hineingewoben“, und
gerade deswegen ganz unfähig, zwischen sich selbst und etwas anderem zu
unterscheiden, mithin – sich zu so etwas wie Seiendem zu verhalten? Allerdings.
Der Mensch ist dennoch von der Situation nicht hingenommen, und zwar eben
dadurch, dass er Sprache hat. Die Sprache ist in ihrem Wesen kein vorhandenes
Laut- oder Schriftzeichen, das eine Menge von festen Bedeutungen hat, vielmehr
eine Zeichnung, Artikulierung der eigenen Befindlichkeit in der jeweiligen Situation.
Als diese Zeichnung ist sie einerseits eine Erhaltung des Hervorgekommenen, des
Seienden als Seiendes, und andererseits – eine Aneignung der Beziehung zu ihm
als eine eigene, der Grenze, die in ihm erfahren wird, als eigene Bestimmtheit.
Der Schein des vorhandenen, transsituativen Selbst wird dadurch möglich, das
die Sprache vom jeweiligen Kontext abgesondert und mit festen Bedeutungen
beladen wird, aus denen das Vorstellen seinen Inhalt schöpft.
II. Philosophie und Wissenschaft
Bei den Griechen war die Theorie immer noch ein
solches Hinsehen auf das Seiende, das nicht von einem vorhandenen Verstand oder
Bewusstsein, sondern von einer Befindlichkeit in der jeweiligen Situation ausgeht.
Sie war eine Teilnahme am Ereignis der Unverborgenheit von etwas, an dem, was
die Griechen Wahrheit nannten. Oder: das Seiende von ihm selbst, d.h. vom
unverfügbaren situativen Zusammenhang her zeigen lassen. Die griechischen
Begriffe sind nicht etwas erfundenes, vielmehr Artikulationen solcher
Zusammenhänge. Die Römer übersetzen „theoria“ durch „contemplatio“, was
bedeutet: etwas in einem Abschnitt einteilen und umzäunen. Die Theorie wird zu
einem Be-greifen dieses etwas, also – zu seinem Er-greifen. Die deutsche
Übersetzung von contemplatio lautet: Betrachtung. Die Wurzel „trachten“ kommt
vom lateinischen „tractare“ – behandeln, bearbeiten. Und „nach etwas trachten“
heißt: es verfolgen, ihm nachstellen, um es sicherzustellen. Die Theorie als
Betrachtung erschließt das Seiende als Gegen-stand – das in einem gesicherten
Zustand Entgegenstehende. Sie ist, wie gesagt, ein Berechnen, aber nicht in dem
verengten Sinne von Operieren mit Zahlen, sondern indem sie das Seiende als
etwas erschließt, womit man rechnen kann, was verfolgbar und beherrschbar ist.
Die moderne Theorie, die Wissenschaft lässt mithin das Seiende nicht so
erscheinen, als es an ihm selbst ist, sondern bearbeitet es virtuell, noch vor
jedem Experiment, indem sie es vor sich stellt, d.h. es nur in den von ihr
vorgezeichneten Hinsichten zum Vorschein bringt. Die Spezialisierung der
Wissenschaften beruht eben darauf, dass jede von ihnen das Seiende im
spezifischen Aspekt der von ihr konstruierten, vorgestellten Gegenständlichkeit
betrachtet. Und endlich ist die Wissenschaft notwendig experimentell, insoweit
sie das Seiende nur so sicherstellen kann, dass sie es befragt, ob es sich
gemäß den von ihr vorgestellten Zusammenhängen melden würde.
Die echte Philosophie unterscheidet sich von der
Wissenschaft grundsätzlich dadurch, dass sie nicht von der Vorhandenheit,
sondern von der Ereignishaftigkeit ausgeht, bzw. das Seiende nicht in diesem
oder jenem Hinsicht, d.h. nicht äußerlich, oberflächlich, fragmentarisch betrachtet.
Jede Wissenschaft gründet auf dem „gesunden Menschenverstand“, und das besagt,
dass sie ihre Gegenständlichkeit durch bestimmte, in der Sprache sedimentierte
Bedeutungen gestaltet, deren ursprünglichen Kontexte vergessen sind. Das heißt,
dass sie diese Bedeutungen hypostasiert, ihnen „Realität“ gibt oder dass sie
ihre eigenen Gründe nicht bedenkt. Wenn sie sich gezwungen sieht, diese Aufgabe
aufzunehmen, überschreitet sie ihre konstitutiven Grenzen und wird im gleichen
Moment zu Philosophie. Allerdings hat die Philosophie, wie sie hier verstanden
wird, mit der Wissenschaft es gemeinsam, keine übersinnliche Welt anzunehmen.
Diese ist gerade durch das Entreißen des Verhältnisses zum Seienden aus der
jeweiligen Situation entstanden. Sie stellt aber ein oberflächlicher Gegensatz
zum „Materialismus“ der Wissenschaft dar, weil sowohl das materielle als auch
das spirituelle Seiende vorhanden ist, d.h. auf einer Vergessenheit des Seins
als das Ereignis seiner Unverborgenheit, auf einem Denken des Seins als
fortwährende Anwesenheit beruht. Jedoch ist die Wissenschaft „fortschrittlicher“
als die Mythologie – nicht bloß durch ihre Errungenschaften, sondern dadurch,
dass sie sich auf das faktische Seiende zuwendet, sei es auch nur in einem oder
anderem Hinsicht.
III. Philosophie und Kunst
Die Philosophie teilt es mit der Kunst, dass sie zum
Allgemeinen unterwegs ist. Doch hier ist keinesfalls ein abstraktes, ideel
vorhandenes Allgemeines gemeint, vielmehr das, was alles durchwaltet. Wie in
den Vorlesungen zu zeigen ist, ist das das Sein als ein situativer
Zusammenhang, von dem her sowohl der Mensch als auch das Seiende je seine
Bestimmung erhält und zum Vorschein kommt. Die Kunst hat dieses Allgemeine zum
Thema, indem sie je eine situative Befindlichkeit artikuliert. Man spricht das gewöhnlich
als ihre Fundiertheit im Gefühl aus. Das Gefühl ist zwar etwas, was über eine
vorhandene, transsituative, in sich selbst verkapselte Innerlichkeit hinaus
verweist, die Eingewobenheit des Menschen als ein leibliches Wesen je in einem
situativen Zusammenhang zeigt. Bevor also das Gefühl als ein seelischer,
psychologischer Zustand ausgelegt wird, ist es ein Aspekt der jeweiligen
situativen Befindlichkeit, die niemals kontrolliert, sondern nur artikuliert
werden kann. Insoweit außerdem diese Artikulierung eine Aneignung, Aufnahme des
Konkreten, Faktischen ist, gibt es in ihr nichts „irrationelles“. Im Gegenteil:
sie steht näher zum Wesen der Wahrheit als das Ereignis der Offenbarung von
etwas, welche Offenbarung eben darum ein Ereignis ist, weil sie kein
Äußerliches für den Menschen ist, vielmehr ihn selbst betrifft, d.h. weil in
ihr der Mensch etwas Eigenes erkennt. Wenngleich aber die echte Kunst das
Seiende vom Zusammenhang des Seins selbst her zum Vorschein bringt, sieht sie, im
Unterschied zur Philosophie, nur das Seiende, das Bestimmte, den „Inhalt“,
nicht das Sein, das Bestimmende, den rein „formalen“ Zusammenhang. In diesem
Sinne sei Hegels Spruch zu verstehen, dass sie sich im Medium der Sinnlichkeit
vollzieht – sie repräsentiert das Allgemeine, das Sein in einer Konfiguration
von Einzelheiten, Seienden. Die Kunst schöpft also aus der „menschlichen
Situation“ heraus, bedenkt aber nicht diese Situation selbst.
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