5. Vorlesung
Aristoteles
Biografische Notiz
I. Kritik an Platon. Form und Materie. Bewegung, Entelecheia, Energeia.
Aristoteles hält gegen das Prinzip der bloßen
Veränderung fest, dass das Sein Idee, nach seinen Worten – „ousia“, Substanz ist.
Dadurch bezeichnet er das, was von sich her ist, kein Anderes braucht, um zu
sein, bzw. durch kein Anderes begrenzt und bestimmt werden kann. Zugleich aber
macht er es gegen Platon geltend, dass die Idee, das Aussehen nicht das
unveränderliche, übersinnlich vorhandene Vorbild eines ebenso vorhandenen
Seienden darstellt. Dass die Dinge an den Ideen (paradeigmata) teilhaben, sei
leeres Gerede oder Metapher, zeigt nicht, wie diese jene bestimmen und zum Vorschein
bringen. Die Ideen als selbständige Gattungen anzunehmen, führt außerdem dazu,
dass die Dinge sich in eine Mannigfaltigkeit von auseinander liegenden
Bestimmtheiten zerstreuen, d.h. durch den Widerspruch von Sein und Nichtsein,
Einem und Vielen geprägt werden. Die Idee ist zwar das Aussehen, worin ein
Seiendes als das, was es ist, erscheint, aber ein solches, das dem
Erscheinenden nicht vorausgeht und von ihm nicht abgesondert werden kann. Sie
ist also keine vorhandene, transsituative, „inhaltliche“ Bestimmtheit, sondern
der jeweilige, rein „formale“ Zusammenhang der Erscheinung. Das Seiende ist
seinerseits auch niemals vorhanden, etwas schon da stehendes, das dann so oder
so aussieht, die eine oder andere Bestimmung erhält. Es ist kein Material, das
außerhalb der Idee liegt und von ihr geformt wird.
Der Hauptgedanke von Aristoteles lautet: die Form
(morphe) ist früher als die Materie (hülle) – nicht der (sukzessiven) Zeit,
sondern dem Wesen nach; gerade die Form ist substantiell, das, was von sich her
Stand hat. Die Materie ist kein Selbständiges, sondern nur „dynamis“, d.h.
Potenz, Möglichkeit, Eignung zu... Da sie kein Vorhandenes ist, ist sie dies
nicht im Sinne von einer Kraft, die etwas bewirken kann. Die eigentliche Ur-sache,
die Arche eines Dings, das, woraus es ausgeht und seine Wesensbestimmung erhält,
ist die Form. Sie ist „energeia“ – das Bewegende,
Tätige, Wirkende einerseits, die Verwirklichung, Wirklichkeit des Dings andererseits.
Aristoteles nennt sie auch „entelecheia“ – ein von ihm selbst geprägtes Wort. Das
Wortwurzel „Telos“ meint kein Ziel, eine von der Vorhandenheit her gesetzte
oder vorausgeblickte Bestimmtheit, die nachdem materialisiert, mit Materie
ausgefüllt wird, vielmehr Vollendung, Ende, aber nicht im Sinne von Abschluss
eines Prozesses, sondern von wesensbestimmender Begrenzung, von der aus etwas
als das, was es ist, anfängt. „Entelecheia“, wörtlich „Sich-am-Ende-Haben“
besagt mithin, die Materie ist nicht das Erste, etwas vorhandenes, das die eine
oder andere Form annimmt. Es ist, zum einen, kein unbegrenztes, gestaltloses
Vorhandenes möglich – das Vorhandene ist immer bestimmt, ein Etwas. Darüber
hinaus heißt aber dies, dass die Substanz eines Dings, das, von dem her es
Stand hat, nicht der vorhandene Stoff ist, woraus es besteht, dass es erst in
der Negation dieses, so oder so bestimmten Stoff-Dings durch die Form zu sich
selbst kommt. Das ist allerdings keine Vernichtung des Stoffs – er wird keineswegs
jeglicher Bestimmung beraubt und zur bloßen Füllmasse herabgesetzt. Im
Gegenteil: er wird im Ding eingenommen, kommt in ihm hervor, realisiert darin
seine eigene Potenz, die aber ihm selbst als vorhandenem nie zugehört hat. Die
Materie ist kein Äußeres und Fremdes gegenüber der Form, sondern ihr eigenes
Anderes, ihr Anderssein, weil sie einer für die Form immanenten Unterscheidung,
Bestimmung entspringt. Das Materiale, Inhaltliche ist somit die äußere Seite,
das „Residuum“ davon, dass das Sein ein Medium ist, d.h. ein Ganzes, das sich
selbst begrenzt, innerlich gliedert, um sich als den formalen Zusammenhang
seiner Teile zu ereignen. Indem ein Stoff in seiner Bestimmtheit als vorhandener
zerstreut wird, um am Zusammenhang eines Dings teilzunehmen, der nicht vom
Vorhandenen her projektiert ist, wird er von diesem Ganzen gleichsam als denselben
Teil verinnerlicht, wiederhergestellt, worin es sich selbst veräußert,
entfremdet hat.
Die Bewegung von der Materie zur Form geht also
nicht von der ersten aus, wird von ihr keinesfalls initiert, und kommt dennnoch
nicht von einem draußen liegendes „Motor“, gehört ihr selbst als Möglichkeit, Geeignetheit
zu...: „Erz ist der Möglichkeit nach eine
Statue, aber die Bewegung, zur Statue zu werden, ist nicht eine Bewegung des
Erzes, insofern es Erz ist, sondern eine Bewegung seiner als der Möglichkeit,
eine Statue zu werden.“ Diese Bewegung fängt nicht in der Materie an,
woraus ein Ding besteht, ist vielmehr seine Vollendung, Erfüllung, Ankunft an ihm
selbst als sich immer unterwegs zu sich selbst befindendem, d.h. als einen Weg
gegangenem, darauf es sich nicht als vorhanden gemacht hat. Eine solche
Bewegung ist gegenüber ihrem „Ziel“ nicht indifferent, löst sich nicht als
Schlacke ab, nachdem es erreicht ist, sondern nimmt an ihm selbst teil, bildet
es. Darum ist gerade die Form das, was bewegt. Insoweit die Form ein Medium
ist, d.h. eine Konfiguration der Elemente, die von deren Stellen in ihr aus
bestimmt, ihre eigene Gliederung sind, ereignet sie sich jedesmal als eine
innerliche Transformation ihrer selbst, stellt sie etwas dar, das ganz in sich
selbst verbleibt. In desem Sinne ist sie ein Unbewegtes, das bewegt. Dieser „unbewegte
Beweger“ ist kein Äußerliches gegenüber dem Stoff, da der letzte nichts
außerhalb der Form, vielmehr die Spur ihrer Selbstunterscheidung ist, von ihr
her bestimmt und zum Vorschein gebracht wird. Deshalb nennt Aristoteles die Form
„Urmaterie“.
Jedoch spricht Aristoteles auch die Materie als
eine Ursache an. Um das zu verstehen, muss man aber die ursprüngliche Bedeutung
von „Ursache“ im Blick behalten. Das Wort meint nicht Kausalität, etwas, das
als vorhanden etwas anderes bewirkt oder auf etwas anderes wirkt, eine Folge
hat, sondern jenes, das verschuldet, dass ein Seiendes das ist, was es ist. Dieses
Verschulden ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Ursache die Sache nicht als
einen bloßen Effekt verursacht, indem sie in der Vergangenheit als für die Sache
äußerliche und unwesentliche bleibt, vielmehr dass sie immer noch gegenwärtig
ist als das, was die Verantwortung dafür trägt, was die Sache ist, d.h. sie
nimmt an dieser selbst teil. Die Materie ist schuldig daran, dass das Seiende
ist, d.h. sie macht sein Sein mit aus. Ohne sie bestünde das Seiende nicht,
d.h. sie ist notwendig, damit es da steht. Aber das Seiende steht als das, was
es ist, nicht durch sie, sondern durch seine Form. Anders gesagt: die Materie
ist seine Ursache nicht an ihr selbst als vorhandener, sondern nur insofern,
als sie bereits auf die Form zugeschnitten, die Möglichkeit dieser Form ist. Nach
Aristoteles ist die Materie das Notwendige, doch ist das Notwendige nicht das
Höchste. Er gibt dafür das folgende Beispiel: „Man stellt sich vor, das Notwendige sei auf diese Weise in der
Entstehung, wie wenn man meinte, ein Haus sei durch die Notwendigkeit darum,
weil das Schwere nach unten, das Leichte aber nach oben, seiner Natur nach,
sich begebe; so daß also der Grund und die Steine wegen ihrer Schwere unter der
Erde, die Erde aber, weil sie leichter, weiter oben und das Holz zuoberst, weil
es das Leichteste ist... Das Haus ist zwar nicht ohne dies (Material) so
geworden, aber nicht... durch dieses... beides (Telos sowohl wie Materie,
Notwendiges) ist als Prinzip zu setzen, aber das Telos ist das höhere Prinzip“.
Dass die Materie das Notwendige ist, sei so zu verstehen, dass das Sein als
Medium sie in einem doppelten Sinne braucht: es benötigt und zugleich gebraucht
sie, um sich als Eidos, als den formalen Zusammenhang der Erscheinung zu ereignen.
Es soll aber nicht vergessen werden, dass die Materie sein eigenes Anderes,
sein Anderssein darstellt. Der Materie-Begriff von Aristoteles erleidet eine
Missdeutung, wenn sie als das eigene Andere des Eidos verkannt, von seinem
ereignishaften Zusammenhang als etwas selbständiges abgesondert und zugleich zu
etwas bloß verfüglichem erklärt wird.
II. Physis und Techne
Aristoteles teilt mit und vollendet die
griechische Auslegung der Physis als ein Aufgehen, das zugleich ein In-Sich-Zurückgehen
ist. Das Aufgehende, Hervorkommende ist die äußere Seite davon, dass die Physis
ein Medium ist, ein Ganzes, das sich von sich selbst als Teile unterscheidet,
um sich als Konfiguration dieser Teile zu ereignen. Diese Teile sind nicht
etwas gegenüber ihm draußen liegendes und indifferent verschiedenes, darin es
bloß verendet, aufhört, sondern sein eigenes Anderes, darin es mit sich selbst
zusammenschließt. So z. B. wird die Blüte durch die Frucht zwar negiert, doch
nicht vernichtet, weil als Frucht kehrt das Gewächs zu seinem Samen zurück, der
nichts anderes als Aufgehen ins Aussehen ist. Das Natürliche ist mithin nicht
bloß das ungemachte Vorfindliche, vielmehr das, was ihre Arche, ihr Telos in
sich selbst hat, sich selbst herstellt, und zwar so, dass es sich selbst wegstellt.
Indem die Physis dieser formale Zusammenhang der Inhalte ist, die nicht
vorhanden, selb-ständig, sondern von ihrer Stellen in ihm her bestimmt sind,
gehört zu ihr auch ein Sich-zustellen von solchem, was durch sie erst aus einem
Verfüglichen, wie z. B. Wasser, Licht usf., zu einem nur ihr Geeigneten, z. B.
Nahrung wird. D.h. sie ist seine Entelecheia, Energeia. Dagegen stellt sich die
neuzeitliche Naturwissenschaft die Natur als einen berechenbaren, verfolgbaren
Zusammenhang von vorhandenen Stoffen oder Kräften vor, die sich aufeinander als
Wirkung und Folge beziehen. Daran ist unwillkürlich selbst Aristoteles
schuldig, weil sein Begriff der Ursache durch die lateinische Übersetzung im
Sinne von Kausalität ausgelegt worden ist. Es kommt hinzu, dass die moderne
Theorie bestimmte Seinsweise eines Menschen ist, der sich selbst als eine
vorhandene, transsituative Innerlichkeit versteht, welche die Natur als etwas
draußen liegendes und nur vorstellbares hat. Diese Innerlichkeit denkt sich
aus, sie sei hinsichtlich der Natur abstrakt-allgemein und deshalb imstande,
eine Wahrheit über die Natur auszusagen. „Wahrheit“ bedeutet hier Richtigkeit
des Vorstellens, Entsprechung zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstand.
Eine solche Wahrheit muss bestätigt werden, indem das natürlich Seiende „experimentell“
befragt wird, ob es sich gemäß dem vorgestellten Zusammenhang melden würde. Das
heißt aber, dass der Mensch darauf ist, die Natur als etwas berechenbares, d.h.
etwas, womit er rechnen kann, das ihm zur Verfügung steht, sicherzustellen; dass
er das Naturding nicht von seinem eigenen Zusammenhang aus, sondern nur nach
einem oder anderem Hinsicht erscheinen lässt. Anders gesagt: dass er es
virtuell bearbeitet, zur bloßen Füllung einer von ihm gesetzten Form
herabwürdigt. Deswegen ist die Technik keine Anwendung der neuzeitlichen Naturwissenschaft,
sondern, im Gegenteil, ihr eigenes Wesen. Und wie Heidegger sagt, Aristoteles
wiederholend, offenbart sich das Wesen am spätestens in der chronologischen
Zeit - es ist ja das Telos, die Verwirklichung.
Aristoteles verlässt keineswegs die griechische
Wesensbestimmung des Menschen als jenes Lebewesen, dem der Logos eignet. Der
Mensch hat den Logos nicht als eine Eigenschaft unter anderen, sondern
umgekehrt, sein Wesen gehört ihm nur dann, wenn er dem Logos gehört, d.h. wenn
er am jeweiligen Seinszusammenhang teilnimmt. Das Sein braucht und gebraucht
den Menschen als denjenigen, der das Mannigfaltige, Zerstreute in seinen
Zusammenhang versammelt, einbringt. Das geschieht, indem er es sich durch seine
Benennung, Bezeichnung er-innert, aneignet, aber nicht von sich als vorhanden,
sondern von seiner Zugehörigkeit zum Zusammenhang des Seins selbst aus. Da der
Mensch so das Zusammengebrachte als etwas Anderes gegenüber ihm selbst, ihm
Entgegenstehendes weiss, lässt er es als solches hervorkommen. Nach Aristoteles
ist das Wesen der Aussage die „apophantis“ – vordem Verborgenes offenbar
machen, es zeigen lassen. Das wahre, seinsmässige Verhältnis zu den Naturdingen
ist also dieses, sie von einem Zusammenhang her erscheinen zu lassen, darin der
Mensch selbst „eingewoben“ ist. Dagegen führt die Inbesitznahme des Logos
seitens des Menschen, seine Verwandlung in Verstand oder Vernunft, zum oben besprochenen
vorstellenden Denken.
Aristoteles zufolge ist die Physis das, was seine
Arche, d.h. seinen Ausgang und seine Bestimmung an ihm selbst hat, was sich
selbst herstellt. „Techne“ ist seinerseits der griechische Name für die
Herstellung von solchem, was seine Arche nicht an ihm selbst, sondern im
Menschen hat, der in diesem Fall Architekton heißt – jener, der die Arche in
der Weise der Techne in sich hat. „Herstellen“ meint hier kein Machen, sondern:
her, in die Anwesenheit, als so und so aussehendes stellen. Es ist Poiesis:
etwas so ins Offene bringen, als ob es von sich her aufgeganagen ist. Einerseits
hat z. B. das Haus sein Ausgang und seine Bestimmung freilich im Bauplan des
Baumeisters. Dieser Plan, das vorweg gesichtete Aussehen des Hauses verfügt
über die Wahl und Bearbeitung der Baustoffe. Auch wenn das Haus „steht“, steht
es zwar auf seinem gelegten Grund, aber niemals aus ihm selbst, nicht als etwas
Aufgegangenes, sondern als etwas Errichtetes. Indem das Haus steht (in der
Unverborgenheit), kann es doch nie sich in seine Arche zurückstellen. Aristoteles
gibt auch das Beispiel mit dem Arzt, der die Arche der Gesundung in sich hat,
aber nicht gemäss seiner selbst, nicht sofern er Arzt ist, sondern sofern er
ein Mensch, d.h. ein natürliches Wesen ist. Und umgekehrt: der Arzt hat die
Arche der Verarztung in sich als Arzt, nicht in sich bloß als Menschen. Die
Arche der Verarztung, wie die des Bauens, liegt mithin nicht in der Natur
selbst. Andererseits aber heißt die Techne ursprünglich kein Machen, Bewirken, d.h.
eine vom Menschen als vorhandenen ausgehende Bearbeitung der zur bloßen Füllung
herabgesetzten Materie gemäss einer in ihm gebildeten Form. Das technisch
Hergestellte ist ein menschliches Werk insoweit, als der Mensch am jeweiligen
situativen Zusammenhang teilnimmt, seine Befindlichkeit darin aufnimmt. Er
versammelt die Stoffe in eine Form, indem er schon immer unterwegs ist, indem
er einem Weg nachgeht, darauf er sich nicht als vorhanden gemacht hat. Dieses
Werk gibt dem Sein Anlaß, sich als eine Aneignung des Stofflichen als sein eigenes
Anderes, als von ihm her gestaltet und hervorgebracht zu ereignen. Das
Stoffliche wird derart nicht zu einer amorphen Masse, vielmehr in jenen seinen
Teilen und Beziehungen erhalten, die der Zusammenhang des Seins als seine
eigenen verinnerlicht, wiederhergestellt hat. Mit ihnen wird es ins
Unverborgene so errichtet, als ob es darin als Natur aufgegangen sei. Energeia
kommt gerade vom Ergon, Werk als das in diesem Sinn Hergestellte.
III. Die moderne Technik – Exkurs über Heidegger
Siehe den beigelegten Text „Die Frage nach der
Technik“.
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