4. Vorlesung
Platon, II. Teil
I. Das Gute als Idee der Ideen. Seele und Leib – zwei Wege des Verstehens.
Die Erkenntnis als Anamnesis.
Die Ideen sind gerade wegen ihres
Vorbildcharakters nicht das Höchste. Denn als das, was selbst ein Aussehen hat
und deshalb etwas Bestimmtes, Seiendes ist, sei es auch übersinnlich, verlangt
die Idee ihrerseits etwas, was sie möglich macht. Die Idee der Ideen, die
höchste Idee, ist nach Platon die des Guten. Das „Gute“ meint hier nicht das
moralisch Ordentliche, sondern das Gewährende, das, selbst kein Bestimmtes, der
Ideen ihre Bestimmungen gibt und sie sein lässt. Gerade angesichts des Guten
vergleicht Platon die Idee mit der Sonne und sagt, dass sie nicht nur die
Erkenntnis der Dinge, sondern auch deren Sein und Wesen ermöglicht, indem sie
selbst verborgen bleibt (Der Staat, 507e-509b). Insoweit aber die Ideen in
einer übersinnlichen Welt vorhandene Bestimmtheiten sind, kann die Idee des
Guten nicht als einen ereignishaften Zusammenhang, vielmehr als ihre
transzendente, doch selbst vorhandene Quelle verstanden werden, woraus sie
ausströmen und worauf sie zurückführbar sind.
Im Dialog „Timaios“, der seine Naturphilosophie
darlegt, setzt Platon das Gute mit dem Gott gleich. Nach Hegel nimmt er die
christliche Trinitätslehre vorweg, indem er darauf insistiert, dass die
Offenbarung zum Gottes Wesen gehört. Gott ist nicht zuerst an sich, um dann
sich in der Weltschöpfung zu offenbaren, weil das unmittelbare Sein, das Sein
ohne Begrenzung und Bestimmung durch etwas Anderes eine leere Abstraktion
darstellt und das unmittelbar Seiende in der Tat nicht absolut, sondern im
Gegenteil, durch etwas Anderes begrenzt und bestimmt ist. Er ist dagegen ein
Medium, d.h. ein Selbstverhältnis, das sich zwischen zwei Seiten vollzieht, die
von ihm aus bestimmt sind, deren Unterschied für ihn immanent, von ihm total
vermittelt ist. Dieses Selbstverhältnis ereignet sich als Verhältnis der im
Menschen befindlichen Seele zu den Dingen. Es ist aber nicht so, als ob die
Seele eine vorhandene, vom Körper wie von einer äußeren Grenze umschlossene und
gegen die außenliegende Welt gekapselte Innerlichkeit sei, sondern genau
umgekehrt. Sie ist mit dem Leib identisch, insoweit sie gerade durch ihn an der
Weltseele, die Gott als Medium ist, teilnimmt. Der Leib ist keine äußere
Begrenzung, vielmehr das, wodurch die menschliche Seele in je eine
ereignishafte Konfiguration eingeschrieben wird, welche eine innere Gliederung
dieses Mediums ist. Das Dingliche, das Stoffliche ist wiederum kein
Vorhandenes, sondern das Anderssein der Weltseele, die äußere Seite, die Spur
der Unterscheidung, die in deren immanenten Grenzen geschieht. Somit ereignet
sich Gott als Selbstverhältnis derart, dass Er als Sein des Menschen sein
Anderssein in den Dingen erkennt. Der Mensch entspricht dieser seiner
Bestimmung, indem er über das Vorhandene hinausgeht, d.h. indem er sich selbst
in seiner Zugehörigkeit zu je einem situativen Zusammenhang übernimmt und sich
zu den Dingen von diesem her verhält, also die Dinge von diesem her erscheinen
lässt. Nach der dargestellten Interpretation sind mithin Seele und Leib ein und
dasselbe, weil sie nicht als vorhanden gedacht werden.
Allein lässt sich auch Platos Verständnis von
Seele und Leib zweideutig interpretieren. In „Phaidon“ sind sie als vorhandene,
auseinander liegende einander entgegengesetzt, und zwar unversöhnlich: „(D)em, was man zusammengesetzt hat und was
seiner Natur nach zusammengesetzt ist, kommt wohl zu, auf dieselbe Weise
aufgelöst zu werden, wie es zusammengesetzt worden ist; wenn es aber etwas
Unzusammengesetztes gibt, diesem, wenn sonst irgend einem, kommt wohl zu, daß
ihm dieses nicht begegne“. „(W)as sich immer gleich verhält..., davon ist wohl
am wahrscheinlichsten, daß es das Unzusammengesetzte sei; was aber bald so,
bald anders..., dieses das Zusammengesetzte“. „Und diese Dinge... kannst du
doch anrühren, sehen und mit den andern Sinnen wahrnehmen; aber zu jenen sich
Gleichseienden kannst du doch wohl auf keine Weise irgend anders gelangen, als
durch das Denken der Seele selbst; sondern unsichtbar sind diese Dinge und
werden nicht gesehen“. „(I)st nicht von uns selbst das eine Leib und das andere
Seele?“. „(D)ie Seele, wenn sie sich des Leibes bedient, um etwas zu
betrachten, es sei durch das Gesicht oder das Gehör oder irgend einen andern
Sinn..., dann von dem Leibe gezogen wird zu dem, was sich niemals auf gleiche
Weise verhält, und... sie dann selbst schwankt und irrt und wie trunken
taumelt, weil sie ja eben solches berührt“. „Wenn sie aber durch sich selbst
betrachtet, dann geht sie zu dem reinen, immer seienden Unsterblichen und sich
stets Gleichen, und als diesem verwandt hält sie sich stets zu ihm..., und
diesen ihren Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit“. „(S)olange Leib und
Seele zusammen sind, die Natur ihm gebietet, zu dienen und sich beherrschen zu
lassen, ihr aber, zu herrschen und zu regieren“. „(D)em Göttlichen,
Unsterblichen, Vernünftigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen und immer einerlei
und sich selbst gleich sich Verhaltenden am ähnlichsten ist die Seele, dem
Menschlichen und Sterblichen und Unvernünftigen und Vielgestaltigen und
Auflöslichen und nie einerlei und sich selbst Gleichbleibenden wiederum der
Leib am ähnlichsten ist“. „Es erkennen nämlich die Lernbegierigen, daß die
Philosophie, indem sie ihre Seele findet, ordentlich gebunden im Leibe und ihm
anklebend, und gezwungen, wie durch ein Gitter durch ihn das Sein zu
betrachten, nicht aber für sich allein, und daher in aller Torheit sich
umherwälzend, und indem sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt, wie er
ordentlich eine Lust ist, so daß der Gebundene selbst am meisten immer mit
angreife, um gebunden zu werden; ...indem die Philosophie in solcher
Beschaffenheit ihre Seele annimmt... und versucht, sie zu erlösen, indem sie
zeigt, daß alle Betrachtung durch die Augen voll Betrug ist, voll Betrug auch
die durch die Ohren und die übrigen Sinne, und deshalb sie überredet, sich von
diesen zurückzuziehen, soweit es nicht notwendig ist, sich ihrer zu bedienen,
und sie ermuntert, sich vielmehr in sich selbst zu sammeln und zusammenzuhalten
und nichts anderem zu glauben als wiederum sich selbst, was sie für sich selbst
von den Dingen an und für sich anschaut; was sie aber vermittelst eines anderen
betrachtet, dieses, weil es in jeglichem anderen wieder ein anderes wird, für
nichts Wahres zu halten, und solches sei ja eben das Wahrnehmbare und
Sichtbare“ (78c-83c).
Hier ist die Seele keine Aufnahme der situativen
Beziehungen, in denen je der Mensch, bevor er so oder so bestimmt ist, durch
seinen Leib eingewoben ist. Stattdessen wird sie als eine einfache, an sich
seiende Einheit dargestellt, die durch ihr fremden, ebenfalls an sich seienden
Körper von der äußeren Welt wie im Gefängnis isoliert ist und irgendwie an
einer übersinnlichen Welt teilnimmt. Die wahrnehmbaren Dinge werden ihrerseits
auch als vorhandene, der Situation entrissene betrachtet, indem die situativen
Bestimmungen, darin sie je erscheinen, zum Sein kommen, sich in deren
Bestandteile verwandeln. Entsprechend der beständigen Anwesenheit der Ideen in
der transsituativen, übersinnlichen Welt ist die Seele unsterblich, während die
sinnlichen Dinge, als bloße Materie gedacht, vergehen.
Nach der ersten der hier gefolgten Deutungslinien
ist die Seele die antithetische Synthesis des Selben und des Anderen, d.h. die
Negation sowohl ihrer eigenen Vorhandenheit als auch jener ihres Anderes, der
Dingen. Sie lässt den Gegensatz von Leben und Tod in diesem Sinn hinter sich,
dass sie in ihrer Negation, Begrenzung durch das Andere nicht verendet,
vielmehr zu sich selbst zurückkehrt. Anders gesagt, erhält sie sich selbst,
indem sie sich an der jeweiligen Situation entäußert, d.h. sich auf sich selbst
als vorhanden verzichtet. Dieses Verständnis wird im „Phaidon“ in der Vorstellung
von der Unsterblichkeit der Seele, von ihrer Kreisbewegung zwischen Leben und
Tod essentialisiert. Die Erkenntnis der Idee ist schon kein Hinausgehen über
die Vorhandenheit, das ein Sein-zum-Tode meines unmittelbar gegebenen Selbst
bedeutet, sondern Erinnerung, Rückkehr zum Vorbild, das als vorhanden im
Jenseits angeschaut worden ist: „(W)enn
jemand irgend etwas sieht oder hört oder anderswie wahrnimmt und er dann nicht
nur jenes erkennt, sondern dabei noch ein anderes vorstellt“. „Wir nennen doch
etwas gleich? Ich meine nicht, ein Holz dem andern oder einen Stein dem andern
noch irgend etwas dergleichen, sondern außer diesem allen etwas anderes, das
Gleiche selbst“. „Ehe wir also anfingen, zu sehen oder zu hören oder die
anderen Sinne zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen
haben des eigentlich Gleichen“. „(W)er etwas wahrnimmt, es sei nun durch
Gesicht und Gehör oder irgendeinen anderen Sinn, dabei etwas anderes vorstellen
könne, was er vergessen hatte und was diesem nahekam als unähnlich oder als
ähnlich“. „Wenn das etwas ist..., das Schöne und Gute und jegliches Wesen
dieser Art, und wenn wir hierauf alles, was uns durch die Sinne kommt, beziehen
als auf ein vorher Gehabtes, was wir als das Unsrige wieder auffinden..., so
muß notwendig, ebenso wie dieses ist, so auch unsere Seele sein, auch ehe wir
noch geboren worden sind“ (73c-76e).
II. Die Kunst als Poiesis. Die Kunst als Nachahmung
„Jede
Veranlassung für das, was immer aus dem Nicht-Anwesenden über- und vorgeht in
das Anwesen, ist poeisis, ist Her-vor-bringen“ (Symposium, 205b). Ein Hervorbringen ist nicht nur das, was
die Griechen „techne“ nannten – das handwerkliche Verfertigen und das
künstlerische Zum-Scheinen- und Ins-Bild-Bringen. Auch die Physis ist ein
poiesis, sogar im höchsten Sinne, da das „natürlich“ Seiende den Aufbruch des
Hervorbringens, z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in sich selbst hat.
Dagegen hat das handwerklich und künstlerisch Hervorgebrachte diesen Aufbruch
in einem anderen, im Handwerker und Künstler. Die Techne entbirgt solches, was
sich nicht selber hervorbringt und noch nicht vorliegt, was deshalb bald so,
bald anders aussehen kann. Andererseits aber ist dieses Hervorbringen keine
Bewirkung eines Effekts, Verursachung im Sinne von der Materialisierung einer
im „Kopf“ vorhandenen Vorstellung. Das Hervorgebrachte ist ein Projekt nicht
des Meisters, sondern der Situation selbst, in der er sich befindet und der er somit
unterworfen ist. Das Einzige, was dem Meister zukommt, ist das, dass er die von
der Situation vorgezeichneten Form und Materie hinsichtlich des Zweckes zusammenbringt,
den ihm seine Situiertheit auferlegt hat. Er gibt zwar Anstoss aber ist kein
Urheber. Darum lässt sich die Techne folgendermaßen bestimmen: etwas so in die
Unverborgenheit bringen, als ob es von sich her aufgegangen ist. Wie es zu
sehen ist, hat in diesem Verständnis das Poetische und das Künstlerische die maximal
umfangreiche Bedeutung einer Teilnahme am Ereignis der Wahrheit.
Andererseits insistiert Platon im Zehnten Buch der
„Politeia“ darauf, dass die Kunst sich auf der dritten Stufe der Entfernung von
der Wahrheit befindet und ein entstellender Schein ist. Hier geht der Philosoph
widerum vom Verständnis aus, die Ideen seien übersinnlich vorhandene Vorbilder
der Dinge und das wahrhaft Seiende. Am nähesten zu ihnen steht der „praktische“
Gebrauch der Dinge, der diese „von innen heraus“ kennt (dieses Verständnis
lässt sich auch als eine Version der Einsicht auslegen, dass jenes, das ein
Ding bestimmt, also sein Wesen ausmacht, dessen „praktisch“ erkannte
„Verwendung“ innerhalb eines situativen Zusammenhangs ist; hier gibt es keinen
Unterschied zwischen Theorie und Praxis, Anschauung und Handlung – das Ding
wird schon dadurch erfasst, dass man es als „etwas, um zu...“ nimmt). Auf der
zweiten Stufe in dieser Hierarchie steht das handwerkliche Herstellen, das auch
ein Sich-auskennen-in fordert und deswegen den Gebrauch des Werks als
Richtlinie hat. Das künstlerische Herstellen ist von der Wahrheit am weitesten
entfernt, weil es diesen Gebrauch nicht einmal zur Kenntnis nimmt, sondern nur die
Art und Weise, wie die Dinge aussehen, oberflächlich, in der Form einer bloßen
Widerspiegelung nachahmt. Die zwei Weisen der Techne sind zwar eine Nachahmung
der ewigen Vorbilder, die diese nicht vollends wiederherstellen kann, aber die
Kunst bildet das Äußerliche, Zufällige, Fragmentarische ab. Außerdem wendet sie
sich an die unvernünftige, affektive Seite des Menschen. Abgesehen davon, dass
in diesem Falle Platon von seiner Zweiweltenlehre ausgeht, kann seine These auch
so interpretiert werden: die Kunst korrumpiert den Menschen, indem sie ihn dazu
verführt, einige Aspekte seiner situativen Befindlichkeit gedanklich nicht
anzueignen und derart sie als eine wilde Kraft loszulassen.
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